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Anhörungsverfahren gemäß § 79 der Geschäftsordnung des Thüringer Landtags zur Thematik: Diskriminierungserfahrungen von Diskriminierung Betroffener, MultiplikatorInnen, ExpertInnen - Stellungnahme des Landesfrauenrat Thüringen e.V.

Der Landesfrauenrat Thüringen e.V. (LFR) ist aufgefordert zum o.g. Anhörungsverfahren eine Stellungnahme abzugeben. Satzungsgemäß befasst sich der LFR mit struktureller Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, schließt aber in sein Wirken alle im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) definierten Diskriminierungsmerkmale ein. Als Lobbyorganisation gehört der LFR zum Kreis der angefragten ExpertInnen und wird aus dieser Position heraus antworten. Die Stellungnahme basiert auf der Beschlusslage der Delegiertenversammlungen des LFR.

Strukturelle Diskriminierungen sind die Formen von Diskriminierung gesellschaftlicher Gruppen, die in der Struktur der Gesamtgesellschaft begründet liegen. So sind Frauen aufgrund von Rollenbildern, im geltenden Recht, in Bildung und Ausbildung, im Erwerbsleben und im Alter von struktureller Diskriminierung betroffen. Im Sozial- und Steuerrecht wird das Rollenbild der sorgenden Hausfrau dem der erwerbstätigen Mutter vorgezogen. Bereits mit den Wahlprüfsteinen zur Bundestagswahl 2009 forderte der LFR die Abschaffung des Ehegattensplittings und die Novellierung des Steuerrechts, da derzeit gültiges Recht z.B. die Bedarfe von Allerziehenden (91%) Mütter nicht berücksichtigt.

Als nachteilig für Frauen im Bereich Bildung und Ausbildung erweist sich die traditionell gewachsene strukturelle Zweiteilung der Berufsbildungssysteme in einen dualen und einen vollzeitschulischen Zweig. Vollzeitschulische Ausbildung mit fehlenden bundesweiten Standards findet nach wie vor in den personenbezogenen Dienstleistungen statt, die als typische Frauenberufe bezeichnet werden. Bessere Bezahlung, Professionalisierung und Aufwertung der Arbeit am Menschen ist mehr als überfällig. Auch diese Forderung stellt der LFR bereits seit 2009. Im Gutachten zum zweiten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung wird dafür der Begriff der sogenannten SAHGE-Berufe geprägt (Berufe der Sozialen Arbeit, haushaltsnahe Dienstleistungen, Gesundheit und Pflege sowie Erziehung und Bildung). Die Auswirkungen der Zementierung von Rollenbildern und der strukturellen Zweiteilung der Berufsbildungssysteme zeigen sich auch am Berufs- bzw. Studienwahlverhalten von Frauen und Männern. So wählten in 2014 nur ca. 11 % der Mädchen bundesweit eine technische Berufsausbildung und nur 23 % ein ingenieurwissenschaftliches Studium. Nur 16 % der Jungen absolvierten eine nichtakademische Ausbildung in medizinischen Gesundheitsberufen und nur 12 % legten die Prüfung im Lehramt Primarbereich ab.

Seit 10 Jahren weisen wir zudem mit der Beteiligung am Equal Pay Day auf die unterschiedliche Bezahlung von Frauen und Männern hin. Derzeit beträgt die Lohnlücke ca. 21 %. Auch dies zählt zur strukturellen Diskriminierung aufgrund des Geschlechts.

Wenn auch in Thüringen die Erwerbstätigenquote von Frauen den höchsten Stand im Vergleich der neuen Bundesländer aufweist, sagt das nichts über die Qualität der Arbeitsverhältnisse. Mehr Frauen als Männer können von ihrem Lohn nicht leben und befinden sich in prekären Beschäftigungsverhältnissen. Der Anteil der Frauen deutschlandweit in Minijobs betrug 2014 ca. 17 % im Gegensatz zu 4,2 % der Männer und über 45 % der sozialversicherungspflichtigen beschäftigten Frauen übte ihre Tätigkeit in (oft ungewollter) Teilzeit aus. Laut statistischem Bundesamt lassen sich drei Viertel des Gender Pay Gap mit Strukturunterschieden erklären und somit aus unserer Sicht mit der Änderung der Strukturen beseitigen.

Da sich all diese Faktoren auf die bestehenden Rentensysteme auswirken, haben sie gravierende Auswirkungen auf die eigenständige Alterssicherung von Frauen. Einer Studie der Bertelsmann-Stiftung aus dem Jahr 2017 zufolge sind vor allem auch alleinstehende Frauen von Altersarmut bedroht. Bis zum Jahr 2036 wird der Anteil der von Altersarmut betroffenen Frauen von derzeit 16,2 auf 27,8 % steigen. Der LFR forderte bereits 2010 die eigenständige bedarfsgerechte Grundsicherung ohne Abhängigkeitsverhältnisse. Wenn die dazu führenden Strukturen weiterhin nicht verändert werden, nimmt die Gesellschaft billigend und wissend diese Entwicklungen hin.
Auch wenn wir uns in dieser Stellungnahme nicht explizite zum Thema Rassismus äußern sei darauf hingewiesen, dass sich all diese Faktoren verstärken, wenn von Mehrfachdiskriminierung z.B. aufgrund der Rasse/Herkunft und des Geschlechts ausgegangen werden muss.

Mit der Zusammensetzung der Parlamente und dem Anteil der Frauen in den Führungsetagen von Verwaltungs- und Landesbehörden, möchten wir auf die strukturelle Behinderung der Umsetzung des Art. 3 des Grundgesetzes hinweisen. Bundesweit sind nur ca. 11 % der Verwaltungsspitzen in Landkreisen, Stadtkreisen und kreisfreien Städten mit Frauen besetzt. Wobei Thüringen mit 30 % bereits auf dem richtigen Weg ist. 2015 lag der Frauenanteil an den Mandaten in den Landesparlamenten bundesweit bei 32 % in den Kreistagen und Landkreistagen bei gerade 27 %. Dabei darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass es auch in Thüringen (Land-)Kreistage mit unter 10 % Frauenanteil gibt. Der LFR forderte bereits im Jahr 2010 Maßnahmen um den Anteil der Frauen in den Parlamenten zu erhöhen und bekräftigte diesen Beschluss 2014 mit der Forderung nach der Einführung eines Parité-Gesetzes nach französischem Vorbild. Dieser Beschluss wurde im Übrigen im selben Jahr auf der Konferenz der Landesfrauenräte eingebracht und einstimmig angenommen. Inzwischen sind wieder Landtags- und Bundestagswahlen ohne ein solches Gesetz

vorgenommen wurden. Der Anteil der Frauen im Bundestag ist nach der Wahl im Jahr 2017 um ca. 6 % auf einen Anteil von 30,7 % gesunken.  Das ist der geringste Anteil seit 19 Jahren. Damit ist der Deutsche Bundestag im internationalen Vergleich nur Mittelmaß und wird nicht nur von skandinavischen Ländern abgehängt. Es wird also Zeit, die Diskussion um ein Parité-Gesetz wiederaufzunehmen und ernsthaft zu führen.

Ein weiterer Bereich, indem Diskriminierung durch strukturelle Gegebenheiten sichtbar wird, ist sexualisierte Gewalt. Fast jede 7. Frau in Deutschland ist davon betroffen. 13 % der in Deutschland lebenden Frauen haben seit ihrem 16. Lebensjahr strafrechtlich relevante Formen sexualisierter Gewalt erlebt. Dabei kommen nur 5 % der Sexualstraftaten zur Anzeige. In Deutschland fallen jährlich 8.000 Vergewaltigungen darunter. Eine Verurteilungsquote von 13 % ist im europäischen Vergleich allerdings unterdurchschnittlich. Eine Studie im Auftrag des BMFSFJ aus dem Jahr 2004 belegt zudem, dass in 99 % der Fälle sexuelle Gewalt von Männern verübt wird, bei sexueller Belästigung in 97 % der Fälle.
Diese Fakten zeigen deutlich, wie eingangs erwähnt, Rollenbilder, Rechtsprechung oder Bildung können Diskriminierung begünstigen oder aber verhindern. Gleiches gilt aus unserer Sicht für Rassismus.

Für weitere Informationen zur strukturellen Diskriminierung aufgrund des Geschlechts verweisen wir auf den ersten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung aus dem Jahr 2011, den zweiten Bericht aus dem Jahr 2017 und den ebenfalls 2017 veröffentlichten 3. Atlas zur Gleichstellung von Frauen und Männern in Deutschland. Diese wurden auch von uns als Quellen benutzt.

Andrea Wagner – Vorsitzende
Ilona Helena Eisner- Geschäftsführerin

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